Montag, 4. Dezember 2017

Kuhpferde

Der Regen prasselte auf das Fenster der Dachwohnung in Bad Neuenahr. Jakob Schmickler saß an seinem Schreibtisch und starrte gebannt auf den Monitor seines Computers. In den letzten Tagen hatte dem Rechner ein Virus zu schaffen gemacht. Würde das neuaufgespielte Betriebssystem laufen? Aufgeregt griff er nach der leeren Whiskyflasche neben seinem Rechner. Er wollte einen Schluck nehmen, aber dann bemerkte er, dass die Flasche leer war. Daher also kamen diese Kopfschmerzen. Gestern Abend hatte er in einem dieser Social Media Netzwerke herumgesurft und wie der Zufall es wollte, war er auf dem Profil seiner Exfrau ge­landet. Dann fiel sein Blick auf die Whiskyflasche und der Rest ist Geschichte. Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken.
„Jakob Schmickler, Ermittlungen aller Art“, meldete er sich dienstbeflissen ohne sich die Kopfschmerzen anmerken zu lassen.
„Hallo Herr Schmickler, hier ist Stellwart von Reiterhof in Krechelheim“, tönte es aus dem Hörer. „Ich brauche ihre Hilfe. Hier bei uns sind zwei Pferde verschwunden. Wir konnten die Hufspuren noch ein Stück weit verfolgen, aber dann kamen wir nicht mehr weiter. Können Sie vielleicht heute noch zu uns kommen?“
Eine halbe Stunde später schnurrte Schmicklers alter Golf die Straße nach Löhndorf hinauf. Gleich danach folgte Krechelheim. Schmickler parkte den Wagen vor dem Stall und blickte sich um. Aus einer Ecke kam Herr Stellwart angelaufen.
„Herr Schmickler, gut, dass sie da sind“, sprudelte Herr Stellwart los. „Bitte kommen sie...“
Herr Stellwart drängte Schmickler auf die obere Reithalle zu. Dahinter lagen einige Weiden.
„Was genau ist den passiert?“, fragte Schmickler im Gehen.
„Von einer der Weiden dort oben sind zwei Pferde verschwunden; wertvolle Turnierpferde wohlgemerkt. Die Spur führte runter ins Hellenbachtal und verliert sich dort.“
Sie hatten jetzt die Weide erreicht und Schmickler untersuchte den Weideneingang. Die Spuren im aufge­wühl­ten Boden waren gut zu erkennen und führten zu einem nahegelegenen Weg. Schmickler und Stellwart folgten den Spuren bis zu einem asphaltierten Feldweg.
„Dort hinten geht die Spur weiter“, sagte Herr Stellwart und zeigte in das Tal hinein. Schweigend gingen sie den geteerten Weg entlang. Aufmerksam betrachtete Schmickler den Asphalt, aber auf der harten Teerfläche war nicht viel zu sehen. An einer Stelle hielt er jedoch an.
„Was ist denn hier los gewesen?“, fragte er.
„Was meinen sie?“, fragte Herr Stellwart.
„Hier am Rand sind Reifenspuren, als ob hier ein Fahrzeug gestanden hätte. Und das Fahrzeug hatte einen Anhänger.“
„Ja, aber das kann nichts mit uns zu tun haben. Die Hufspuren gehen dort unten weiter.“
Eilig lief Herr Stellwart zu der angegebenen Stelle. Schmickler folgte ihm zögernd. An einer Abzweigung begann ein neuer, nichtasphaltierter Feldweg. Herr Stellwart wies mit dem Finger auf eine paar deutlich sichtbare Hufabdrücke.
„Hier, sehen sie? Da geht die Spur weiter.“
„Und wo führt sie hin?“, fragte Schmickler.
„Sie verliert sich dort bei der Weide, wo die Kühe stehen. Da ist der Boden recht hart. Man kann dort nicht mehr viel erkennen.“
Schmickler betrachtete den Weg. Er war an dieser Stelle von Gras überwachsen; nichteinmal die Fahr­strei­fen waren zu sehen. Schmickler untersuchte das Gras, aber es war zwecklos. Der Boden war hier einfach zu hart, um Hufabdrücke zu finden.
„Wie sieht es denn da hinten aus?“, fragte er.
„Keine Ahnung“, antwortete Herr Stellwart. „So weit bin ich nicht gegangen.“
„Schmickler lief noch ein Stück den Weg entlang. Links und rechts waren Weidezäune. Nach beinahe huntert Metern stand er vor einer großen Schlammpfütze. Hufspuren waren hier jedoch keine zu sehen. Nachdenklich drehte er sich um und ging zurück zu Herrn Stellwart.
„Merkwürdig, dort hinten ist eine große Schlammpfütze, aber keine Hufabdrücke. Wären dort zwei Pferde durchgegangen, müßte man das doch sehen können.“
Nachdenklich glitt sein Blick umher. Die Weidezäune boten keine Schlupflöcher. Die einzige Möglichkeit wäre der Zugang zur Kuhweide. Schmickler untersucht den Boden des Eingangsbereiches. Dort waren trotz einer großen Schlammpfütze erstaunlich wenige Spuren zu finden. Kurzentschlossen durchquerte er den Weidezaun und ging auf die Kühe zu. Eine Jungkuh erhob sich schwerfällig und schaute ihn besorgt an. Auch die anderen Kühe erhoben sich und blickten in seine Richtung. Schmickler ging zwischen den Kühen hin und her und betrachtete aufmerksam den Boden. In dem halbhohen Graus konnte er jedoch nichts fin­den. Schließlich drehte er sich um und steuerte wieder auf das Weidetor zu. Vor ihm lief eine Kuh, die durch seinen überraschenden Besuch hochgescheucht worden war, auf die Schlammpfütze am Eingang zu. Als das Tier die Schlammpfütze durchquerte, geschah etwas merkwürdiges: Statt der Fußspuren einer Kuh hinterließ sie Hufabdrücke! Schmickler blieb fast die Spucke weg. Schnell lief er zu dem Tier hin und hob ein Bein in die Höhe. Ein Hufeisen! Diese Kuh trug ein Hufeisen! Er winkte Herrn Stellwart heran und zeigte ihm den Fuß.
Dieser war außer sich: „Hufeisen? An einer Kuh? Das habe ich ja noch nie gesehen! Wo gibt es denn sowas?“
Schmickler untersucht die anderen Beine der Kuh. Alle waren beschlagen. Dann untersuchte er die Beine der anderen Kühe. Tatsächlich fand er eine zweite Kuh, die ebenfalls Hufeisen trug.
„Wem gehören die Kühe?“, fragte er.
„Meinen Nachbarn, den Schöffers. Ziemlich unangenehme Leute.“
„Dann passt es ja“, sagte Schmickler. „Was aber können die mit den gestohlenen Pferden anfangen?“
„Eigentlich nichts. Die Pferde sind bekannte Turnierpferde. Wenn die bei irgendeinem Rennen laufen, werden die sofort erkannt.“
„Sind es Stuten oder Wallache?“
„Hengste“, antwortete Herr Stellwart.
„Hengste? Ich wußte gar nicht, dass Hengste bei Rennen eingesetzt werden.“
„Ein guter Hengst der auch ein gutes Rennpferd ist, kann in der Pferdezucht viel Geld einbringen. Da würde sich sogar ein Diebstahl lohnen“, sagte Herr Stellwart.
„Dann, glaube ich, weiß ich, was passiert ist: Die Pferde wurden von der Weide gestohlen und weggeführt. An der Stelle auf der Straße wo die Reifenspuren sind wurden sie in einen Hänger verladen. Statt ihrer wur­den zwei Kühe weitergeführt, die mit dem Hänger dorthin gebracht worden waren. Zur Tarnung hatte man den Kühen Hufeisen angelegt, damit sie eine falsche Fährte legen würden. Leider haben die Täter vergessen die Eisen wieder zu entfernen. Sie brauchen jetzt nur noch die Polizei anrufen und denen die Kühe zu zeigen.“
Am nächsten Tag, als Schmickler wieder an seinem Schreibtisch saß, klingelte erneut das Telefon. Am Apparat war Herr Stellwart.
„Herr Schmickler, ich wollte mich ganz herzlich für ihre Hilfe bedanken. Ohne sie hätten wir es nicht geschafft die Pferde wieder zu bekommen. Die Tiere sollten tatsächlich für die Zucht irgendwo in Osteuropa eingesetzt werden. Aber jetzt sind sie wieder da.“
„Gerne geschehen“, antwortete Schmickler. „Und wenn sie mich wieder brauchen, wissen sie, wo sie mich finden.“

Die verschollenen Reiter

Jakob Schmickler saß gerade auf dem Klo, als das Telefon klingelte. Das war nichts besonderes. Irgendwie schafften es die Leute immer wieder gerade dann anzurufen, wenn er etwas persönliches zu erledigen hatte. Deshalb hatte er in Griffnähe einen zusätzlichen Sprechapparat installiert. Er griff nach dem Hörer und mel­de­te sich routinemäßig mit „Jakob Schmickler, Ermittlungen aller Art.“ Am anderen Ende der Leitung war Eberhard Stellwart, Besitzer eines Reiterhofes aus dem Nachbarort.
„Herr Schmickler, ich brauche wieder mal ihre Hilfe“, tönte es aus der Hörmuschel. „Hier auf dem Reiterhof geschehen unheimliche Dinge. Kinder verschwinden spurlos.“
Schmickler schluckte. Dann fragte er: „Wie genau passiert das?“
„Ich habe im Sommer doch immer Gruppen von Ferienkindern zum Reiterurlaub auf meinem Hof. Mit denen reiten wir fast täglich ins Gelände. Nach jedem Ausritt läuft das letzte Pferd ohne Reiter nach Hause. Jetzt sind schon drei Mädchen verschwunden und niemand weiß wohin. Zuerst dachte ich, die Kinder wollen mich nur veräppeln, aber jetzt mache ich mir wirklich Sorgen.“
„Haben sie die Polizei verständigt?“
„Ja, aber die sagen, sie können erst was machen, wenn die Kinder vierundzwanzig Stunden verschwunden sind. Im übrigen tauchen die bestimmt bald wieder auf, meinten sie.“
„Ich komme gleich zu ihnen. In einer halben Stunde bin ich da“, antwortete Schmickler und legte den Hörer auf.
Fast genau nach der versprochenen Zeit stand Jakob Schmickler auf dem Reiterhof im benachbarten Kre­chel­heim und schüttelte einem sorgenvollen Herrn Stellwart die Hand.
„Danke, dass sie so schnell gekommen sind“, sagte Herr Stellwart.
„Wie genau passiert das Verschwinden?“, fragte Schmickler.
„Nun ja“, begann Herr Stellwart. „Wir reiten mit den Ferienkindern aus; ich, meine Frau oder eines der älte­ren Mädchen die hier Reitunterricht geben und wenn wir zurückkommen, hat das letzte Pferd keinen Reiter mehr. Es läuft einfach so mit leerem Sattel hinter den anderen Pferden her.“
„Reiten sie immer dieselbe Route?“
„Nicht immer, aber in den letzten Tagen sind wir fast nur im Harterscheid gewesen. Die anderen Wege sind derzeit schlecht passierbar.“
„Haben sie nur Mädchen hier oder auch Jungs?“
„Eigentlich nur Mädchen bis etwa vierzehn Jahren. Jungs in dem Alter reiten nicht so gerne.“
„Ist irgendjemandem in der Gruppe etwas aufgefallen?“
„Nein, niemand hat etwas bemerkt. Die Kinder sind wohl auch nicht runtergefallen, denn sonst hätten sie ja gerufen, oder?“
„Wahrscheinlich“, antwortete Schmickler. „Sind die Mädchen vielleicht freiwillig abgestiegen?“
„Möglich, aber warum sollten sie?“
„Das müssen wir herausfinden. Wissen sie, wo genau die Kinder verschwunden sind?“
„Nein, aber wir können es ungefähr eingrenzen. Es muss auf einem kurvigen Waldweg passiert sein. Vorher waren noch alle Kinder zusammen und danach beginnt eine Galoppstrecke. Da schauen wir immer erst, ob alle da sind.“
„Wie lang ist der Waldweg?“
„Etwa zweihundert Meter. Soll ich sie dort hinführen?“
„Ja, fahren wir sofort los.“
Schmickler und Herr Stellwart stiegen in Schmicklers alten Golf und fuhren los. Nach einer viertel Stunde hatten sie den Walweg erreicht. Schmickler parkte den Wagen und sie gingen zu Fuß weiter. Sorgfältig betrachtete Schmickler den Weg, der sich durch das Unterholz schlängelte. Die Ränder waren an beiden Seiten zugewachsen. Es war, als ob man durch einen kurvigen Tunnel aus Gestrüpp lief. Schmickler unter­suchte die Ränder des Weges recht sorgfältig. Es dauerte recht lange, bis er endlich auf ein paar umge­knickte Zweige stieß.
„Hier ist jemand durchgelaufen“, sagte er und zeigte auf die gebrochenen Hölzer. Dann schob er ein paar Äste zur Seite und verschwand im Gebüsch. Herr Stellwart folgte ihm. Gemeinsam gingen sie vorsichtig über den weichen Waldboden. Schmickler hatte seine Augen starr auf die Erde gerichtet und bewegte sich behände vorwärts. Nach beinahe hundert Metern lichtete sich das Unterholz und sie erreichten einen Weg. Schmickler betrachtete den aufgeweichten Boden. Dann entschied er nach links zu gehen. Nach einigen hundert Metern endete der Weg unmerklich zwischen dem Gestrüpp. Schmickler drang jedoch weiter durch die Büsche, bis er und Herr Stellwart schließlich auf eine kleine Lichtung mitten im Wald gelangten. Plötz­lich zog Herr Stellwart Schmickler am Arm und wies mit der Hand auf die andere Seite der Lichtung. Sie trauten ihren Augen kaum: Dort standen zwei Zelte! Und vor den Zelten spielten die verschwundenen Mäd­chen! Die Kinder erschraken, als sie die beiden Männer bemerkten. Froh und wütend zugleich lief Herr Stellwart auf sie zu.
„Da seid ihr ja!“, rief er aufgeregt. „Was treibt ihr denn hier mitten im Wald? Was ist passiert? Warum seid ihr so plötzlich verschwunden? Wir haben uns Sorgen um euch gemacht!“
Ein wenig betreten schauten die Kinder auf Herrn Stellwart.
„Ich schlage vor, wir setzen uns und lassen die Kinder erzählen“, sagte Schmickler. Die Mädchen und Herr Stellwart folgten seinem Vorschlag und Sekunden später erzählte eine von ihnen, was passiert war.
„Wir wollten ein paar Tage im Wald campieren, ohne Aufsicht der Erwachsenen. Wir haben die Sachen heimlich hierher gebracht und die Zelte aufgebaut. Dann sind wir während der Ausritte einfach abgestiegen und haben das Pferd alleine weiterlaufen lassen.“
„Aber Kinder!“, rief Herr Stellwart. „Ist euch eigentlich klar, was ihr für Aufregung verursacht habt? Ich war kurz davor die Polizei und eure Eltern anzurufen!“
„Es tut uns sehr leid“, sagten die Mädchen ein wenig betreten. „Wir wollten doch nur ein paar Tage für uns sein.“
Schmickler erhob sich aus dem Gras: „Nun, da die Kinder wieder da sind, ist meine Arbeit hier wohl er­le­digt. Ich schlage vor, ihr packt eure Sachen in mein Auto und wir fahren zum Reiterhof zurück.“
Herr Stellwart nickte zustimmend. Was für ein Glück, dass die Angelegenheit so schnell aufgeklärt werden konnte. Nachdenklich schaute er auf Jakob Schmickler. ‚Was für ein Glück, dass es Leute wie ihn gibt’, dachte er.

Die Leiche im Misthaufen

Es war ein sonniger Frühlingstag. Jakob Schmickler saß auf der Terrasse des Reiterhofes in Sinzig-Krechel­heim und genoss die ersten warmen Sonnenstrahlen nach einem langen und harten Winter. Von Zeit zu Zeit nippte er an seiner Kaffeetasse. Seit drei Monaten hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt; ungefähr genau so lange, wie er von seiner Exfrau nichts mehr gehört hatte. Dafür lief das Geschäft in den letzten Wo­chen recht gut, auch wenn es keine spektakulären Fälle waren: Ein paar untreue Ehepartner, ein Dieb­stahl in einem Handwerksbetrieb und ein Fall von Betriebsspionage. Aber die Bezahlung war akzeptabel ge­wesen, sodass er seine Mietschulden hatte begleichen können. Jetzt befand er sich wieder an dem Ort, wo er vor bald einem Jahr seinen ersten großen Fall hatte. Er war auf dem Reiterhof, auf dem er damals die Mord­serie aufgeklärt hatte. Diesmal gab es jedoch nichts für ihn zu tun. Sein Besuch war rein privater Natur. Er hatte es gewagt sich ein paar Stunden frei zu nehmen und in der Gastwirtschaft des Reiterhofes einen Kaffee zu trinken.
Auf dem Reitplatz herrschte reges Treiben. Auch Pferde und Reiter waren froh nach dem langen Winter wieder im Freien trainieren zu können. Die Terrasse der Gastwirtschaft war gut besucht. Seit kurzem gab es dort sogar einen kleinen Wintergarten für Regentage und für die Raucher, die seit Inkrafttreten des neuen Gaststättengesetzes nicht mehr im eigentlichen Gastraum rauchen durften.
Schmickler beobachtete den Hofhund, der gerade um die Ecke kam und einen riesigen Knochen im Maul hatte. Der Knochen sah schon recht alt und halbverwest aus. Wo hatte der Hund den wohl ausgegraben? Das Tier setzte sich wenige Meter von Schmickler entfernt in eine Ecke und begann den Knochen zu benagen. Was das wohl für ein Knochen war? Der Größe nach zu urteilen, musste er mindestens von einer Kuh stammen. Oder gar von einem Pferd? Auch die anderen Besucher der Terrasse waren auf den Hund auf­merksam geworden und schauten interessiert zu, wie dieser den Knochen bearbeitete. Plötzlich sprang ein Mann auf, eilte auf den Hund zu und versuchte ihm seine Beute zu entreißen.
„Gib den Knochen her! Braver Hund! Aus!“, rief der Mann und zog mit beiden Händen an dem Knochen.
„Was wollen sie denn mit dem Ding?“, mischte sich Schmickler ein. „Lassen sie doch dem Hund seinen Spaß.“
„Spaß?“, antwortete der Mann entrüstet. „Wissen sie, was das für ein Knochen ist? Ich bin fast sicher, er stammt von einem Menschen.“
Schmickler erstarrte für einen Moment. Dann hatte der Mann es geschafft dem Hund den Knochen ab­zu­jagen. Er drehte ihn hin und her und betrachtete ihn sorgfältig von allen Seiten. Schmickler stand auf und ging zu dem Mann hinüber.
„Wieso sind sie so sicher, dass es ein menschlicher Knochen ist?“, fragte er.
„Ich bin Arzt“, antwortete der Mann. „Ich erkenne einen Menschenknochen, wenn ich einen sehe. Dieser hier stammt vom Unterarm eines Menschen. Wo der Hund den wohl her hat?“
„Ich sah, dass er aus dieser Richtung gekommen ist“, sagte Schmickler und zeigte auf den Weg, der zwischen Stall und Reithalle in Richtung der Weiden führte.
Schmickler und der Arzt schauten sich kurz an. Dann gingen sie beide los in die Richtung, aus der der Hund eben gekommen war. Ihnen folgten einige andere Terrassenbesucher, während der Hund um sie herum­sprang und seinen Knochen wiederhaben wollte.
Am Ende des Weges befand sich rechts hinter dem Stall ein Misthaufen. An den Spuren konnte man er­kennen, dass der Hund hier herumgewühlt hatte. Schmickler holte eine Schaufel aus der nahen Stallgasse und stocherte damit im Misthaufen herum. Dabei legte er einige halbverweste Gliedmaßen eines Menschen frei. In diesem Misthaufen lag eine Leiche! Sofort machten sich die Anwesenden daran die Leiche aus­zu­graben. Sie brauchten auch nicht lange, denn der obere Teil des Misthaufens war im Rahmen der üblichen Arbeiten abgetragen worden, sodass der tote Körper nur noch von einer dünnen Schicht bedeckt war.
Die allgemeine Aufruhr hatte inzwischen noch mehr Zuschauer angelockt, darunter auch den Hofbesitzer, der nun mit bleichem Gesicht auf die Leiche starrte.
„Kennen sie die Tote, Herr Stellwart?“, fragte Schmickler und zeigte auf die halbverweste Leiche, die nur noch entfernt an einen Menschen erinnerte. Lediglich an ihrer Kleidung konnte man feststellen, dass sie eine Frau gewesen ist. Auch das Gesicht war nur noch mit Mühe zu erkennen.
„Das ist Frau Nelles. Sie ist vor einem halben Jahr spurlos verschwunden. Die Polizei hat damals den ganzen Mühlenberg nach ihr abgesucht, weil sie dort zuletzt gesehen wurde. Wie kommt sie denn hierher?“
„Hatte sie mit dem Reiterhof zu tun?“, fragte Schmickler.
„Die Familie hat hier ein Pferd eingestellt“, antwortete Herr Stellwart.
„Wann genau ist sie verschwunden?“
„Am 26., ziemlich genau vor sechs Monaten. Die Polizei und die Familie haben sie seitdem offiziell als ver­misst gemeldet.“
„Doktor“, wandte sich Schmickler an den Arzt. „Was denken sie, woran Frau Nelles gestorben ist?“
Der Arzt beugte sich hinunter zu dem toten Körper.
„Genau kann man das erst nach einer ordentlichen Obduktion sagen. Aber so wie der Leichnam beschaffen ist, würde ich sagen, dass die schweren Quetschungen im Brustbereich die Todesursache waren. Man findet diese Art von Verletzungen bei Verkehrstoten, die von einem schweren Fahrzeug überrollt wurden. Das Fahr­zeug muss allerdings sehr breite Reifen gehabt haben.“
„Wie ein Traktor, zum Beispiel?“, fragte Schmickler, dessen Blick gerade auf ein solches Gefährt gefallen war, dass hinter der Reithalle parkte.
„Ja, ein Traktor käme in Frage.“
„Herr Stellwart“, wandte sich Schmickler nun an den Hofbesitzer. „Was ist hier auf dem Hof an diesem fraglichen 26. passiert?“
„Das weiß ich zufällig noch genau, weil die Polizei wenige Tage später auch hier bei uns nach Frau Nelles gesucht hat. An diesem Tag haben wir die beiden oberen Stallgassen ausgemistet.“
„Hat es dabei irgendwelche besonderen Vorkommnisse gegeben?“
„Unser Stallmeister spürte beim Rangieren mit dem Traktor plötzlich so einen merkwürdigen Stoß. Das hat er mir erzählt. Aber wir fanden keine Ursache dafür.“
„Wo finde ich ihn?“
„Der ist oben im Stall beim Füttern. Aber nein, da kommt er gerade.“
Von der allgemeinen Aufruhr angelockt, hatte sich der Stallmeister genähert, um zu schauen, was los war. Wenige Sekunden später stand auch er vor dem Leichnam.
„Ich erinnere mich, dass ich mit dem Traktor rangiert habe, nachdem ich eine große Schaufel Mist aus dem Stall herausgefahren hatte“, erzählte er. „Beim Rückwärtsfahren spürte ich plötzlich einen Stoß. Ich drehte mich um, aber da war nichts. Ich setzte weiter zurück und dann kam so ein seltsames Knirschen. Ich dachte schon, der Traktor hätte einen Motorschaden, aber der Motor lief ja weiter. Ich setzte den Traktor wieder nach vorne und fuhr zur Seite, damit Herr Stellwart Platz hatte. Der kam nämlich gerade mit dem anderen Traktor und wollte eine Schaufel Mist auf dem Misthaufen abladen. Das hat er dann auch getan. Ich stieg danach kurz ab und untersuchte den Traktor auf Schäden, konnte aber nichts finden. Also haben wir weiter­gearbeitet.“
„Haben sie nichts gehört? Einen Schrei, zum Beispiel?“
„Nein, der Motor war so laut.“
Ein wenig betreten schauten Herr Stellwart und der Stallmeister einander an. Dieser unerwartete Leichen­fund hatte sie beide sehr mitgenommen.
„Dann war es wohl ein sehr tragischer Unfall“, sagte Schmickler. „Jetzt müssen wir aber die Polizei an­rufen.“
Es dauerte beinahe eine halbe Stunde, bis ein Streifenwagen zur Stelle war und erst nach einer weiteren halben Stunde war endlich die Spurensicherung da. Zu sichern gab es jedoch nichts mehr, denn der tote Körper war so von Neugierigen umringt, das auch die geringste Spur verwischt sein musste. Schmickler saß jetzt wieder auf der Terrasse und schlürfte seinen Kaffee. Für ihn gab es nichts mehr zu tun, denn der Fall war gelöst, bevor er überhaupt zu einem Fall werden konnte.

Der eingeschläferte Tierarzt

Jakob Schmickler steuerte seinen alten Golf die Straße am Hang des Mühlenberges hinauf in Richtung Löhn­dorf. Er war auf dem Weg zum Reiterhof in Krechelheim. Wieder einmal hatte es dort einen Zwischen­fall gegeben und wieder einmal konnte nur er, Jakob Schmickler, den Fall lösen. Bald hatte er die Passhöhe erreicht und bog von der Hauptstraße in das Dorf ein. Die Straße führte durch eine Senke im Ort auf den gegenüberliegenden Hügel und weiter zum Reiterhof. Schmickler kannte den Weg inzwischen genau; hatte er doch schon mehrere Fälle auf dem Reiterhof gelöst. Während er fuhr, dacht er an das Telefongespräch mit Herrn Stellwart: Ein Tierarzt wurde bewusstlos auf einer Weide gefunden, in der Hand seine eigene Spritze mit der er sonst unheilbar kranke Pferde einschläfert. Herr Stellwart vermutete einen Überfall oder etwas ähnliches. Der Tierarzt liegt jetzt im Koma und ist nicht ansprechbar.
Bald hatte er den Reiterhof erreicht und parkte den Wagen wie gewöhnlich vor den Ställen. Dann machte er sich auf die Suche nach Herrn Stellwart, aber er brauchte nicht lange zu suchen. Herr Stellwart arbeitete gerade in der Stallgasse an einem Heuballen. Erfreut begrüßte er Schmickler.
„Herr Schmickler, gut dass sie da sind.“
„Was genau ist denn passiert?“, fragte Schmickler ohne Umschweife.
„Wenn wir das wüssten“, gab Herr Stellwart zurück. „Auf einer der oberen Weiden lag heute morgen der Tierarzt Dr. Buscher mit einer Spritze in der Hand. Er war bewusstlos. Wir haben sofort einen Notarztwagen gerufen, der ihn nach Remagen ins Krankenhaus gebracht hat. Sein Auto stand wenige Meter entfernt auf dem Feldweg.“
„Haben sie die Polizei informiert?“
„Ja, aber die haben nur einen Streifenwagen vorbeigeschickt. Außerdem sagten sie, sie brauchen jeden Mann für den Besuch der Bundeskanzlerin auf der Rheinland-Pfälzischen Weinmesse in Koblenz.“
„Wieso sind sie denn so sicher, dass es ein Verbrechen war?“
„Zum Beispiel, weil niemand vom Hof den Tierarzt bestellt hat und auf der Weide zu der Zeit keine Pferde waren. Außerdem war es die Spritze mit der er sonst kranke Pferde einschläfert. Für mich sieht das sehr nach Sabotage aus.“
„Sabotage? Wie kommen sie denn darauf?“
„Herr Schmickler, ich glaube, dass mein ehemaliger Stallmeister etwas damit zu tun hat. Wir haben uns vor ein paar Monaten im Streit getrennt und ich glaube, dass er ein paar Einsteller von mir abgeworben hat. Dieser Mann will mich fertig machen!“
„Aber Herr Stellwart, wie können sie so was sagen? Haben sie Beweise für diese Behauptung?“
„Ich weiß es einfach!“, schrie Herr Stellwart plötzlich mit sich überschlagender Stimme.
Dann wischte er sich schwer atmend den Schweiß von der Stirn und sagte mit heiserer Stimme: „Entschuldigen sie, aber ich bin völlig mit den Nerven fertig. Diese Sache hat mich sehr mitgenommen.“
„Schon gut“, sagte Schmickler. „Werfen wir erst mal einen Blick auf die Weide.“
Gemeinsam gingen sie am Eingang der unteren Reithalle vorbei, um die Halle herum und bogen nach links auf den Weg, der zu den Weiden führte. Nach einigen Metern bogen sie rechts ab und dann wieder links in einen gut bewachsenen Wiesenweg. An der äußersten Weide, direkt unter einer Hochspannungsleitung, blieb Herr Stellwart stehen.
„Hier ist es, Herr Schmickler.“
Schmickler drehte sich um und schaute zurück zum Reiterhof.
„Wir sind hier ja ganz schön weit weg vom Hof“, sagte er. „Da hat vom Hof aus bestimmt niemand etwas gesehen, oder?“
„Nein, erst heute morgen, als eine Einstellerin ihre Pferde auf die Weide brachte.“
„Gibt es irgendwelche Hinweise, auf das was passiert ist?“
„Nein, Dr. Buscher lag einfach nur da. Um ihn herum lagen ein paar medizinische Utensilien, darunter die Spritze. Dort steht sein Auto.“
Herr Stellwart wies mit der Hand auf eine Stelle des Feldweges, wo ein großer PKW mit vollgestopftem Kofferraum geparkt war.
„Wollte er eine Injektion setzen?“, fragte Schmickler.
„Kann sein, aber wem? Es war doch sonst niemand da.“
„Vielleicht sich selber?“
„Und dafür kommt er ausgerechnet hierher auf meine Weide?“
„Wo wohnt er denn?“
„Bei Andernach, etwa 20 Kilometer von hier.“
„Hm“, überlegte Schmickler. „Das passt wirklich nicht zusammen.“
Während er überlegte, fiel sein Blick auf einen Weg, der sich zwischen zwei Baumreihen hindurch schlängelte.
„Wohin führt dieser Weg eigentlich?“
„Da geht es zum Nachbarhof. Außerdem ist da noch eine Weide, die zu uns gehört. Dort stehen ein paar Pferde, die nicht so oft geritten werden. Jetzt im Sommer bleiben die auch nachts draußen.“
Schmickler setzte sich in Bewegung und steuerte auf die Lücke zwischen den Baumreihen zu. Herr Stellwart folgte ihm. Hinter den Baumreihen lagen weitere Weideflächen. Auf einer recht großen, baumbestandenen Streuobstwiese standen ein paar Pferde, wie Herr Stellwart gesagt hatte. Auf einer größeren Weide rechts hinter den Bäumen standen noch mehr Pferde.
„Gehören diese Pferde auch ihnen?“, fragte Schmickler und wies auf die rechte Weide.
„Nein, das sind die Weiden vom Elfenhof. Die haben zwar auch Pferde, aber nur wenige für den eigenen Bedarf. Es gibt auch einen kleinen Reitplatz, aber keinen Unterricht. Dafür kommen die manchmal zu uns.“
„Herr Stellwart, würden sie vielleicht schon mal ohne mich zum Hof zurückgehen? Ich will etwas über­prüfen.“
„Natürlich, wenn sie es wünschen. Ich gehe dann mal. Habe ohnehin noch zu arbeiten.“
„Ich komme auch gleich“, sagte Schmickler, drehte sich um und folgte dem Weg bis zu einer Kreuzung. Dann bog er nach rechts auf das Hauptgebäude des Elfenhofes zu.
Es dauerte einige Minuten bis er jemanden gefunden hatte, aber glücklicherweise war es die Chefin persönlich. Schmickler stellte sich kurz vor und kam dann schnell zur Sache.
„War der Tierarzt Dr. Buscher gestern bei ihnen?“
„Ja, gestern Abend. Ein Pferd war krank.“
„Um wie viel Uhr war das?“
„So gegen elf.“
„Wann ist er wieder gegangen?“
„Das war schon fast Mitternacht.“
„Wo hat er das Pferd behandelt?“
„Hier am Haus.“
„Haben sie gesehen, wie er abgefahren ist?“
„Ja, er hatte seinen Wagen direkt hier geparkt. Er fuhr dann den Feldweg hinauf in Richtung Wiesenhütte. Ich bin dann aber ins Haus gegangen, weil das Telefon klingelte.“
Schmickler bedankte sich und ging wieder zurück zu den Weiden an den Baumreihen. Sorgfältig beobach­tete er den Erdboden. Dort waren jede Menge Fuß- und Pferdespuren zu sehen. Er schaute sich um und betrachtete die Pferde auf der Streuobstwiese, die sich neugierig genähert hatten und nun direkt am Zaun standen.
,Fünf Pferde’, zählte Schmickler in Gedanken. Dann wandte er sich wieder den Fußspuren zu. Auf dem Weg war auch eine Reifenspur deutlich erkennbar. Sie endete bei dem Auto des Tierarztes. Der Wagen war ver­schlossen und Schmickler konnte nur einen Blick durch die Fensterscheiben werfen. Zu sehen gab es eigent­lich nicht viel, nur die üblichen Geräte eines Tierarztes. Nach einigen Minuten entschloss sich Schmickler zu Hof zurückzugehen. Er musste jetzt erst mal über das Gesehene nachdenken.
Schnell war er am großen Reitplatz angekommen und setzte sich auf eine Bank. Während er ein paar Reite­rinnen zusah, die auf dem Platz ihre Runden drehten, dachte er angestrengt nach.
,Ein Tierarzt wird bewusstlos auf einer Weide liegend gefunden, eingeschläfert mit seiner eigenen Spritze, die er noch in der Hand hält.. Sein Auto steht wenige Meter entfernt. In der Umgebung sind jede Menge Fußspuren von Menschen und Pferden, was aber nicht weiter ungewöhnlich ist. Oder doch?’
Während Schmickler nachdachte, gesellte sich Herr Stellwart zu ihm.
„Haben sie noch etwas herausgefunden?“, fragte er.
„Dr. Buscher war auf dem Elfenhof und hat dort ein Pferd behandelt. Die dortige Chefin hat ihn noch ab­fahren sehen, ging dann aber ins Haus. Aus irgendeinem Grund ist er dann aber nicht weggefahren, sondern hielt an, um dann in die entgegengesetzte Richtung den Feldweg entlang zu fahren, bis zu der Stelle, wo sein Wagen jetzt steht. In der Umgebung sind jede Menge Fuß- und Pferdespuren, aus denen ich nicht schlau werde. Ich wünschte, ihre fünf Pferde könnten sprechen, dann hätten wir wenigstens ein paar Zeugen.“
Herr Stellwart erschrak: „Wieso fünf? Es müssen doch sechs sein!“
„Ich habe dort nur fünf Pferde gesehen.“
Für einen kurzen Moment schauten sie sich an, dann liefen sie los. Nach wenigen Minuten standen sie schwer atmend vor der Streuobstwiese und blickten sich suchend nach den Pferden um.
„Tatsächlich“, keuchte Herr Stellwart. „Hier stehen nur fünf Pferde. Wo zum Teufel ist das sechste?“
Herr Stellwart kontrollierte den Weidezaun, aber der war an dieser Stelle intakt. Mit den Augen suchte er den übrigen Zaun ab, konnte aber zunächst nichts entdecken. Erst bei näherem Hinsehen erblickten er und Schmickler in einer unscheinbaren Ecke einen umgebogenen Zaunpfahl. Nur dort konnte das Pferd ent­schlüpft sein. Schmickler suchte den Boden um das Zaunloch herum ab.
„Hier sind ein paar Fußabdrücke, direkt neben den Hufspuren“, rief er. „Das Pferd ist nicht von alleine weg­gelaufen, es wurde von einem Menschen geführt.“
Schmickler versuchte der Hufspur zu folgen, die vom Weidezaun weg über eine Wiese zu einem asphal­tier­ten Fahrweg führte. Auf dem Asphalt verlor sich jedoch die Spur.
„Ob das Pferd hier verladen worden ist?“, überlegte er.
Sie suchten noch einige Minuten den Boden ab, aber auf dem harten Asphalt war nichts mehr zu erkennen.
„War das Pferd eigentlich wertvoll?“, fragte Schmickler.
„Nein, das war schon ein älteres Tier. Das wird kaum noch geritten.“
„Wem gehört das Tier?“
„Einer Frau aus Ahrweiler, die aber nur selten mit dem Pferd reitet.“
„Gibt es irgendeinen Grund dieses Pferd zu stehlen?“
„Nein, mir fällt nichts ein. Aber was hat das alles zu bedeuten?“
„Ich denke, ich weiß, was passiert ist: Nachdem Dr. Buscher den Elfenhof verlassen hatte, fuhr er den Feld­weg entlang, der auf den asphaltierten Fahrweg führt. An der Kreuzung hielt er kurz an, vermutlich weil er beobachtet hat, wie sich jemand an der Weide zu schaffen machte. Er stieg aus und stellte den oder die Täter zur Rede. Die Täter überwältigten ihn, verabreichten ihm seine eigene Spritze und trugen ihn hinüber auf ihre Weide. Das Auto fuhren sie ebenfalls dorthin, weil es dort weder vom Elfenhof noch von ihnen aus zu sehen ist. Sie legten den bewusstlosen Doktor auf die Weide und verschwanden unbemerkt mit dem Pferd.“
Herr Stellwart hatte gespannt zugehört. Nun fragte er: „Aber wieso klaut jemand ein Pferd?“
„Ist es eigentlich einfach ein geklautes Pferd zu verkaufen?“
„Nein, ein seriöser Käufer will auf jeden Fall den Pferdepass haben.“
„Und ein unseriöser?“
„Das kann ich mir nur schwer vorstellen, dass jemand ein Pferd kauft ohne Papiere.“
„Was ist mit dem Schlachthof?“
„Die schon gar nicht. Die lassen sich immer den Pferdepass und den Kaufvertrag zeigen.“
„Was also kann man mit einem geklauten Pferd anfangen?“
„Eigentlich gar nichts. Deshalb passiert es ja auch so selten, dass ein Pferd geklaut wird.“
„Und dennoch zeigen die Spuren an, dass das Pferd weggeführt wurde bis zu dem Fahrweg, wo wahrschein­lich ein Pferdeanhänger wartete.“
Schmickler und Herr Stellwart sahen sich einen Moment schweigend an.
„Gibt es hier in der Gegend jemanden, der mit Pferdefleisch handelt?“
„Nein, aber vor ein paar Tagen war jemand hier und fragte nach Pferden zum Schlachten. Ich glaube, er hieß Rudolf oder so ähnlich.“
„Hat er gesagt, wie er zu erreichen ist?“
„Nein, aber er sagte, dass er morgen wieder vorbeikommen wolle.“
„Dann warten wir bis morgen. Ach ja, ich brauche noch eine Beschreibung oder ein Foto des verschwun­de­nen Pferdes.“
Am nächsten Tag stand Schmickler wieder mit seinem Golf auf dem Platz vor den Stallungen des Reiter­hofes in Krechelheim und wartete auf den geheimnisvollen Herrn Rudolf. Er hatte mit Herrn Stellwart vereinbart, dass dieser ihm ein Zeichen geben solle, wenn Herr Rudolf käme, damit er ihm folgen könne. Das war jedoch unnötig, denn Herr Rudolf fuhr mit einem nicht zu übersehenden Pferdetransporter vor. Nachdem er kurz mit Herrn Stellwart gesprochen hatte, stieg er wieder in seinen Wagen und fuhr los. Auch Schmickler startete den Motor seines Wagens und fuhr in einiger Entfernung hinter dem Transporter her. Auf seinem Beifahrersitz lag ein Foto des verschwundenen Pferdes.
Die Fahrt ging fast eine Stunde lang bis tief in die Eifel hinein. Schließlich gelangten sie an einen abgele­ge­nen Bauernhof. Schmickler parkte den Wagen in einiger Entfernung und schlich vorsichtig auf den Hof zu. Neben dem Hauptgebäude parkte ein recht großer Viehtransporter mit italienischem Kennzeichen. Hinter dem Haupthaus war ein Stallgebäude. Vorsichtig blickte Schmickler umher und schlich dann zum Stall. Die Tür war nicht abgeschlossen und lies sich problemlos öffnen. Schnell trat er ein und schloss die Tür sofort wieder. Flugs sah er sich um. Der Stall war voller Pferde, die ihn erstaunt ansahen! Er warf einen schnellen Blick auf das Foto in seiner Hand und schaute dann im Stall umher. Ganz hinten in einer Ecke stand ein Pferd, dass fast wie das auf dem Foto aussah. Eingehend verglich er das Foto mit dem Tier. Jawohl, das war es! Das war das verschwundene Pferd! Jetzt galt es schnell zu handeln.
Unbemerkt verließ Schmickler den Stall und lief in ein angrenzendes Gebüsch. Er zog sein Handy aus der Tasche, schaltete es ein und rief die örtliche Polizeidienststelle an. Es dauerte aber fast eine halbe Stunde, bis endlich ein Streifenwagen da war.
Am darauffolgenden Tag saß Schmickler mit Herrn Stellwart in der Gaststätte des Reiterhofes in Krechel­heim.
„Das Pferd ist wieder auf der Weide. Und jetzt erzählen sie mir die Geschichte bitte von Anfang an“, forder­te Herr Stellwart ihn auf.
„Gerne“, antwortete Schmickler. „Dieser Herr Rudolf ist Mitglied einer Verbrecherbande, die überall in der Eifel Pferde gestohlen und zum Schlachten nach Italien gebracht hat. Die Pferde wurden auf einem alten Bauernhof in der Eifel gesammelt und mit einem Transporter in einen Schlachthof nach Apulien gefahren. An jenem Abend wollte die Bande auch hier ein paar Pferde klauen, ist aber dabei von dem Tierarzt beob­ach­tet worden. Die Bande hat ihn überwältigt, ihm eine Spritze verpasst und dann auf die Weide gelegt. Es sollte wohl so aussehen, als ob der Arzt Selbstmord begangen hat oder bei seiner Berufsausübung ein Unfall passiert ist oder so ähnlich. Ein Pferd hatten sie schon verladen, aber nachdem sie überrascht wurden, haben sie sich wohl nicht mehr getraut weiter zu machen. Die Spritze wäre eigentlich tödlich gewesen, aber der gute Doktor wurde schon von den ersten Tropfen die in die Blutbahn gelangten bewusstlos. Die Bande hielt ihn für tot und ließ ihn liegen. Dann machten sie sich mit dem Pferd davon.“
„Aber warum kamen sie noch mal wieder?“
„Ja, das war schon ziemlich unverfroren. Vermutlich dachten sie, dass es Verdacht erregen würde, wenn sie nicht wie angekündigt kämen. Offenbar sind nicht alle Pferde gestohlen worden. Es scheint, dass die Bande zur Tarnung auch Pferde gekauft hat. Übrigens, wie geht es Herrn Dr. Buscher?“
„Soweit ich gehört habe, ist er zwar noch bewusstlos, aber er wird es überleben. Er hat wohl echt Glück ge­habt.“
„Nun, dann ist meine Arbeit wohl getan. Ich schicke ihnen wie immer die Rechnung.“
„Vielen Dank, Herr Schmickler“, sagte Herr Stellwart und schüttelte Schmickler die Hand. „Ich wüsste nicht, was ich ohne ihre Hilfe getan hätte.“
„Es war mir ein Vergnügen“, sagte Schmickler grinsend.

Todesritt nach Königsfeld

Es war ein angenehmer Frühlingstag. Die Sonne schien und die Vögel sangen. Jakob Schmickler steuerte seinen alten Golf die Straße am Mühlenberg entlang in Richtung Löhndorf. Er war auf dem Weg nach Kre­chel­heim. Erst vor einer halben Stunde hatte ihn der dortige Reiterhofbesitzer Eberhard Stellwart angerufen und von einem Reitunfall im Harterscheid berichtet. Eigentlich nichts spektakuläres, wenn auch tragisch für den Betroffenen.
Bald hatte er Löhndorf erreicht und bog nach rechts in den Ort ein. Die Straße führte durch eine Senke an einem Kleintiergehege vorbei. Dann kam die große Kreuzung vor dem Kriegerdenkmal. Danach ging es erst langsam, dann stetig bergauf. Oben auf dem Hügel begannen die Felder. Nach etwa einem Kilometer er­reich­te Schmickler den ihm mittlerweile gutbekannten Reiterhof bei Krechelheim. Er parkte den Wagen vor den Ställen und machte sich auf die Suche nach Herrn Stellwart. Dieser kam gerade mit dem Traktor um die Ecke, auf der Gabel einen riesigen Heuballen. Als er Schmickler sah, stellte er das Gefährt ab und begrüßte ihn.
„Herr Schmickler, freut mich, sie zu sehen.“
„Gleichfalls“, erwiderte Schmickler. „Was gibt es denn so dringendes?“
„Gestern ist ein Reiter im Wald tödlich verunglückt. Die Polizei glaubt, dass es ein Unfall war.“
„Und warum glauben sie das nicht?“
„Ich weiß es nicht genau. Es ist nur so eine Ahnung.“
„Können sie das etwas präziser ausdrücken?“
„Nun ja. Der Verstorbene ist Hauptmann außer Dienst Wolfgang von Frick, ein ehemaliger Bundeswehroffizier. Er war erst seit kurzem hier und ist erst vor ein paar Monaten ins Nachbardorf gezogen. Sein Pferd hatte er mitgebracht. Ich kenne das Tier nicht, aber es scheint ein sehr ruhiges und braves Pferd zu sein. Gestern ist der Hauptmann wie so oft in den Wald geritten. Seine Lieblingsstrecke war der Weg nach Königsfeld und zurück. Etwa eine halbe Stunde nachdem er losgeritten war, kam sein Pferd alleine hier an. Wir haben uns sofort auf die Suche gemacht und fanden seine Leiche auf dem Weg liegend. Es muss ihn mitten im Galopp aus dem Sattel gerissen haben. An der Stelle wo er lag stehen die Bäume recht nah am Fahr­weg und ein paar Äste hängen über dem Weg, aber keiner hängt tief genug, um jemanden aus dem Sattel zu fegen.“
„Könnte sich das Pferd erschreckt haben?“, fragte Schmickler dazwischen.
„Das wäre möglich, aber ich glaube es nicht.“
„Warum nicht?“
„Zunächst, weil ich seltsame Spuren an einem Baum fand. An einer Stelle war die Rinde rund um den Stamm auf einer Breite von etwa zehn Zentimetern abgeschabt, als ob da ein Seil gehangen hätte. Ich habe das der Polizei gezeigt, aber die meinte, das hätte nichts zu bedeuten. Irgendein Tier könnte das abgefressen haben, sagten sie. Aber so weit nach oben reichen Rehe nicht ran und welches andere Tier käme sonst in Frage?“
„Wie hoch war denn die Stelle?“
„Etwa 2,50 Meter über dem Erdboden.“
„Das ist schon etwas seltsam. Und was ist das andere?“
„Nun ja, ich habe den Eindruck, dass Hauptmann von Frick sich irgendwie bedroht gefühlt hat. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass er in seinem Reitstiefel ein Kampfmesser trug. Er hatte sich sogar ein separates Fach dafür in den Stiefel einnähen lassen. Die Polizei hat das natürlich auch bemerkt, aber sie meinten, das wäre wohl nur eine Marotte von ihm gewesen. Als alter Soldat wäre er halt an den Umgang mit Waffen ge­wöhnt gewesen, und so weiter.“
„Wissen sie, wo der Hauptmann stationiert gewesen war?“
„Nein, er hat darüber nicht gesprochen. Er war ja nun auch pensioniert. Allerdings hat er einmal erwähnt, dass er lange in Afghanistan gewesen sei.“
„In Afghanistan?“, hakte Schmickler nach. „Nun, das ist ja heutzutage auch nichts ungewöhnliches mehr.“
„Mir ist auch aufgefallen, dass der Hauptmann immer etwas nervös gewesen war. Kam jemand unbemerkt in den Stall, erschrak er sich.“
„Nun ja, das heißt aber auch noch nichts.“
Schmickler dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er: „Können sie mir die Unfallstelle zeigen?“
„Natürlich. Nehmen wir meinen Wagen oder ihren?“
„Meiner steht gerade hier. Steigen sie ein.“
Die Wege um den Reiterhof herum waren recht holprig. Deshalb entschloss sich Schmickler die Teerstraße Richtung Löhndorf zu fahren und kurz vor dem Ort links abzubiegen. Sie überquerten die Autobahn und fuhren dann ein Stück parallel zu der Schnellstraße, bis sie an den breiten Waldweg nach Königsfeld kamen. Sie bogen in den Waldweg ein und fuhren langsam über den ungeteerten, aber gut gepflegten Schotterweg. Bald hatten sie die fragliche Stelle erreicht. Schmickler stoppte den Wagen und beide stiegen aus.
„Hier war es“, rief Herr Stellwart. „Hier hat er gelegen.“ Dabei zeigte er auf eine Stelle am Wegesrand.
„Und wo ist die Seilspur?“, fragte Schmickler.
„Dort oben“, sagte Herr Stellwart und wies auf einen Baum an dessen Stamm in etwa 2,50 Metern Höhe die Rinde auf einer Breite von beinahe zehn Zentimetern abgerieben war. Schmickler betrachtete die Stelle genau. Dann überquerte er den Weg und inspizierte die Bäume auf der anderen Straßenseite. Bald hatte er die Gegenstelle gefunden. Dort war zwar kaum Abrieb zu erkennen. Dafür waren allerdings von einem der darüber hängenden Äste ein paar Zweige und Blätter abgerissen worden. Schmickler untersuchte auch die anderen Äste. Auch an ihnen waren Rissspuren zu erkennen. Es dauerte beinahe zehn Minuten, bis er die Unfallstelle komplett untersucht hatte. Dann ergriff Herr Stellwart das Wort.
„Also, was denken sie?“, fragte er mit gespanntem Gesichtsausdruck.
„Es sieht so aus, als ob hier ein Seil quer über den Weg gespannt worden sei. Das Seil war an diesem Baum fixiert, aber an jenem nur um den Stamm geworfen, vermutlich, damit man es zuziehen konnte. Das Seil hing nicht direkt über dem Weg, sondern weiter oben und wurde durch die über dem Weg hängenden Äste und Zweige verdeckt. Der Täter hat die Falle so angelegt, dass das Seil für einen sich nähernden Reiter kaum zu entdecken war. Im entscheidenden Moment hat er es dann angezogen, sodass sich die lockere Schlinge um den Stamm gelegt hat, während er das lose Ende über diesen abgesägten Baumstumpf dort ge­worfen hat. Der sich im Galopp nähernde Reiter hat das herabsinkende Seil zu spät bemerkt und wurde aus dem Sattel gehoben, während das Pferd unbehelligt weiterlief. Dann hat der Täter das Seil abgenommen und ist geflüchtet. Den Reiter hat er einfach liegen lassen.“
„Toll!“, rief Herr Stellwart. „Ich frage mich, warum Kommissar Saudow nicht darauf gekommen ist.“
„Saudow?“, horchte Schmickler auf. „Hat der die Ermittlungen übernommen?“
„Wieder einmal“, entgegnete Herr Stellwart. „Aber für ihn schien der Fall klar zu sein: Ein unglücklicher Reitunfall. Sowas passiert halt.“
„Ich gebe zu, dass die Spuren auch anders interpretiert werden können. Aber es sollte reichen, um weitere Nachforschungen anzustellen.“
„Warum aber glaubt Saudow an einen Unfall?“
„Das könnte politische Gründe haben.“
„Wie meinen sie das jetzt?“, fragte Herr Stellwart und schaute irritiert.
„Die Landesregierung hat doch bei der letzten Wahl versprochen die Kriminalitätsrate zu senken.“
„Ja, und?“
„Deshalb wäre es aus politischen Gründen wohl opportuner, wenn es sich um einen Unfall handeln würde und nicht um Mord.“
„Das meinen sie doch nicht ernst?!?“
„Warum nicht? Bei der Arbeitslosenstatistik läuft es so ähnlich. Da werden Arbeitslose in sinnlose Fort­bil­dun­gen gesteckt und schon gelten sie nicht mehr als arbeitslos. Die Quote sinkt und alle sprechen von einem Aufschwung.“
„Aber das ist doch glatter Betrug!“
„Mag sein, aber wen interessiert das?“
Schmickler sah Herrn Stellwart an und zuckte mit den Schultern.
„Und was werden wir jetzt machen?“, fragte Herr Stellwart.
„Schwierig. Wir haben so gut wie keine Anhaltspunkte. Gehen wir mal davon aus, dass der Mord geplant war, dann muss es ein Motiv geben. Wir wissen aber nicht genug über den Hauptmann, um ein Motiv zu erkennen. Eigentlich wissen wir über ihn nur, dass er ein Messer im Stiefel trug und in Afghanistan war. Außerdem können wir vermuten, dass jemand der einen solchen Mord plant die Gewohnheiten seines Opfers genau kennt. Es kann aber niemand aus dieser Gegend sein, denn der Hauptmann war noch nicht lange genug hier, um sich Feinde zu machen. Kommt also eher ein Auswärtiger in Frage. Haben sie in letzter Zeit zufällig jemanden verdächtiges auf dem Reiterhof oder in der Nähe beobachtet?“
„Nein, eigentlich nicht“, überlegte Herr Stellwart. „Aber auf dem Hof ist ja immer viel Betrieb.“
„Achten sie bitte in den nächsten Tagen darauf, ob sich irgendwo ein Fremder aufhält. Möglicherweise will der Täter nachprüfen, ob er wirklich Erfolg hatte oder ob sein Opfer vielleicht doch noch lebt. Übrigens: Kann man hier in der Nähe irgendwo übernachten?“
„Ein Hotel haben wir nicht, aber es gibt im Nachbardorf ein paar Ferienwohnungen und einige wenige Frem­denzimmer. Warum fragen sie?“
„Der Täter hat sein Opfer wohl genau beobachtet. Daher vermute ich, dass er sich im Dorf eingemietet hat. Ich werde einfach mal so tun, als wollte ich ein Zimmer mieten. Vielleicht finde ich etwas heraus.“
Herr Stellwart nickte.
Schmickler überlegte weiter: „Dann bleibt noch das Seil. Für so eine Aufgabe kann man keinen Bindfaden nehmen. Dafür braucht man ein Bergsteigerseil, dass auch ruckartige Stöße auffangen kann, ohne zu reißen. Solch ein Seil sollte mindestens zehn Millimeter Durchmesser haben. Diese Seile sind relativ teuer und man bekommt sie nur in Trekkingläden. Davon gibt es im Ahrtal nur einen Laden, in Ahrweiler. Allerdings ist in Bonn auch ein recht großer Trekkinghändler. Ich sollte mich mal umhören, vielleicht hat in letzter Zeit jemand ein solches Seil gekauft.“
„Glauben sie, dass wir so den Täter finden?“
„Um ehrlich zu sein: Bergsteigerseile werden zwar nicht so häufig gekauft, aber die Läden führen auch nicht Buch über alle Kunden. Außerdem kommen Leute oft von weit her, wenn sie etwas spezielles brauchen. Wenn wir Pech haben, dann haben in den letzten Tagen dutzende Leute Seile gekauft. Es wäre reiner Zufall, wenn wir etwas fänden.“
„Aber trotzdem haben wir ein paar Anhaltspunkte“, sagte Herr Stellwart.
„Nun ja, es ist besser als nichts“, entgegnete Schmickler. „Ich werde jetzt mal ins Dorf fahren und so tun, als wollte ich ein Zimmer mieten. Danach fahre ich nach Ahrweiler und schaue in den Trekkingladen.“
Zwei Stunden später. Müde ließ sich Schmickler auf die Bank im Wartehäuschen der Bushaltestelle fallen. Im Dorf gab es etwa ein halbes Dutzend Ferienwohnungen und Zimmer zu mieten und er hatte sie alle ab­ge­klappert. Um diese Jahreszeit waren zwar nur wenige Touristen im Ort, aber dafür waren einige Ferien­woh­nun­gen an Handwerker vermietet, die auf einer Großbaustelle an der Autobahnbrücke über dem Ahrtal ar­beiteten. Freilich war es zu früh, um irgendeinen Verdächtigen definitiv auszuschließen, aber da es keine offensichtlichen Berührungspunkte zwischen den Handwerkern und dem Toten gab, würde er die Hand­wer­ker zunächst mal nicht weiter beachten. Zwei der Ferienwohnungen waren an holländische Familien ver­mietet; diese dürften wohl auf jeden Fall als Verdächtige ausscheiden. Blieb nur noch ein seltsamer Aus­län­der, der seit zwei Wochen in einem Ferienzimmer in einem Haus nahe beim Sportplatz wohnte. Die Vermie­terin, obwohl sehr gesprächig, wusste kaum etwas über den Mann. Er hatte einen recht dunklen Teint und schien Moslem zu sein. Außerdem hatte er einen arabischen Namen. Er sprach sogar ein paar Worte Deutsch, obwohl er erst seit kurzem in Deutschland war. Was er in dieser Gegend wollte, wusste die Ver­mieterin nicht.
Schmickler entschloss sich den Mann zu überprüfen. Vielleicht konnte er sogar ein Foto von ihm machen. Er erhob sich von der Bank und lief um die nächste Straßenecke, wo er sein Auto geparkt hatte. Er öffnete den Kofferraum und entnahm eine Fototasche, wie sie gerne von Bildreportern verwendet wird. Mit der Tasche in der Hand setzte er sich ans Steuer seines Wagens. Er legte die Tasche auf den Beifahrersitz, öffnete sie und nahm eine mittelgroße, digitale Kamera mit Zoomobjektiv heraus. Damit konnte er auch auf große Entfernungen noch recht gute Fotos machen. Er legte die Kamera neben die Tasche und startete dann den Motor des Wagens. Nach nur einer Minute Fahrt hatte er einen kleinen Parkplatz am Sportplatz erreicht. Er drehte den Wagen so, dass er die Haustür des Hauses in dem der seltsame Feriengast wohnte gut sehen konnte und machte die Kamera bereit. Jetzt hieß es warten, bis der Verdächtige ihm vor die Linse kommen würde.
Es dauerte bis zum frühen Abend. Dann endlich kam der Mann die Straße entlang und steuerte auf sein Quar­tier zu. Unauffällig zückte Schmickler die Kamera und machte ein paar Aufnahmen. Nachdem der Ver­dächtige im Haus verschwunden war, betrachtete er die Bilder auf dem Kamera-Display. Die Aufnahmen waren etwas unscharf, aber zumindest ein Bild war brauchbar. Schnell fuhr er in seine Wohnung in Bad Neuenahr, druckte das Bild über seinen Rechner aus und fuhr mit dem Ausdruck weiter zu dem Trekking­laden in Ahrweiler. Der dortige Verkäufer war zunächst misstrauisch, aber Schmickler konnte ihn über­zeugen, dass er einer ernsten Sache auf der Spur war. Er zeigte ihm das Foto und der Verkäufer erkannte den Mann sofort wieder.
„Ja, der hat vor zwei Tagen ein Seil gekauft. Sogar ein besonders stabiles“, bestätigte er.
Schmickler bedankte sich und verließ den Laden wieder. Jetzt war er sicher, dass er den Täter gefunden hatte. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zurück zum Reiterhof nach Krechelheim. Dort traf er Herrn Stellwart vor dem Stall und dieser hörte gespannt zu, als Schmickler von seiner Recherche erzählte. Dann betrachtete er das Foto eingehend.
„Ich kann mich zwar nicht erinnern diesen Mann hier gesehen zu haben, aber das heißt nichts. Hier kommen ja so viele Leute her“, sagte Herr Stellwart.
„Die Vermieterin meinte, dass der Mann Moslem sei. Er nennt sich Ismail und hat beim Frühstück den ge­koch­ten Schinken und die Wurst nicht angerührt. Übrigens war ein gewisser Ismail der siebte Nachfolger Mohammeds, der sich mit einigen Getreuen konfessionell abgespalten hat. In der islamischen Welt gelten die Ismailiten seither als Abweichler. Auf Ismail berief sich seinerzeit auch der Anführer einer geheimnis­umwitterten Sekte, die zur Zeit der Kreuzfahrer im Nahen Osten zahlreiche Mordanschläge verübt haben soll. Man nannte sie die Assassinen“, fügte Schmickler hinzu.
„Glauben sie, dass der Mann aus Afghanistan stammt?“, fragte Herr Stellwart nachdenklich.
„Darauf wollte ich hinaus“, sagte Schmickler. „Der Hauptmann war ja auch in Afghanistan. Offenbar gibt es eine Verbindung zwischen den beiden. Vielleicht war es ein Mord aus Rache.“
„Aber wie passt das zusammen?“
„Das sollten wir besser ihn fragen.“
„Sie meinen, wir gehen einfach so zu dem Mann hin und fragen ihn, warum er Hauptmann von Frick umgebracht hat?“
„Warum nicht? Wir fahren zu ihm rüber. Er dürfte jetzt zuhause sein.“
Herr Stellwart fühlte sich unbehaglich. „Wäre es nicht Zeit Kommissar Saudow anzurufen?“
„Und was wollen sie dem sagen?“
„Stimmt auch wieder. Der glaubt uns doch sowieso nicht. Also fahren wir!“
Fünf Minuten später standen sie vor der Tür des Hauses nahe dem Sportplatz. Die Vermieterin erkannte Schmickler sofort wieder und war ziemlich irritiert, dass er ihren Feriengast besuchen wollte. Leicht verwirrt führte sie die beiden Männer bis vor die Zimmertür. Dann klopfte sie und rief: „Herr Ismail, hier sind zwei Herren, die sie sprechen möchten.“
Es dauerte einen Moment, dann öffnete sich die Tür und ein arabisch aussehender Mann in europäischer Kleidung erschien im Türrahmen.
„Kommen sie herein“, sagte er. „Ich habe sie erwartet.“
Schmickler und Herr Stellwart betraten den Raum und sahen sich unauffällig um. Er war wie ein Ferien­zim­mer eingerichtet. Persönliche Gegenstände lagen nur wenige herum. Der Mann wies auf zwei Stühle und setzte sich selbst auf das Bett. Dann blickte er seine Besucher wortlos an.
„Verstehen sie deutsch oder möchten sie lieber Englisch mit uns sprechen?“, fragte Schmickler.
Der Mann entschied sich für Englisch.
„Warum haben sie Hauptmann von Frick ermordet?“, fragte Schmickler direkt.
„Sind sie von der Polizei?“, fragte der Mann.
„Nein, ich bin Jakob Schmickler, Privatdetektiv und das ist Herr Stellwart, der Besitzer des Reiterhofes auf dem der Ermordete sein Pferd stehen hatte.“
„Wie haben sie mich so schnell gefunden?“
„Sie haben ein paar deutliche Spuren hinterlassen. Stammen sie aus Afghanistan?“
„Ja, ich komme aus einem Dorf im Hilmendtal.“
„Vermute ich richtig, dass sie Hauptmann von Frick aus Rache ermordet haben?“
„Dieser Mann hat mein Dorf mit allen seinen Bewohnern ausgelöscht. Er ist für den Tod von mehr als fünf­zig Menschen verantwortlich.“
„Bitte erzählen sie uns, was passiert ist“, bat Schmickler.
„Es ist jetzt beinahe fünf Jahre her. Damals war dieser Mann Anführer eines Trupps Soldaten, die auf der Suche nach Taliban in unser Dorf kamen. Unser Clanchef sagte ihnen, dass es hier keine Taliban gäbe und dass sie wieder gehen sollten. Aber sie ignorierten ihn einfach. Dann durchsuchten sie alle Häuser und trieben die Bewohner auf dem Dorfplatz zusammen. Sie rissen den Frauen die Schleier von den Gesichtern. Als sich eine wehrte, hat er sie einfach erschossen. Nachdem der Schuss gefallen war, eröffneten auch die anderen Soldaten das Feuer auf die Menschen. Ich selbst stand in der Mitte. Als die Männer und Frauen neben mir tot zusammenbrachen, ließ auch ich mich fallen und tat so, als ob ich tot sei. Stundenlang lag ich zwischen den Leichnamen meiner Stammesangehörigen. Schließlich verschwanden die Soldaten wieder. Als ich sicher war, dass sie abzogen, verfolgte ich sie bis zu einem Militärstützpunkt. Vor dem Stützpunkt waren Zelte mit Flüchtlingen. Ich mischte mich unter die Leute und erfuhr, dass es Deutsche Soldaten waren, die mein Dorf zerstört hatten. Es gelang mir auch herauszufinden, wer verantwortlich war für den Überfall. Es war nicht einfach die Spur des Mannes bis hierher zu verfolgen. Fünf Jahre hat es gedauert, bis ich ihn auf­gespürt hatte. Immer wieder hat er geschafft mich abzuhängen, aber immer habe ich seine Spur wieder­ge­funden. Vor etwa zwei Wochen kam ich in dieses Dorf. Ich mietete mich hier ein und begann den Mann zu beobachten. Bald schon wusste ich, dass er immer in den Wald ritt. Ich suchte eine geeignete Stelle und besorgte ein stabiles Seil. Das Seil in den Ästen zu tarnen, war kein Problem. Als er vorbeigaloppierte, brauchte ich das Seil nur noch anzuziehen.“
„Warum sind sie damals oder auch heute nicht zur Polizei gegangen?“, fragte Schmickler.
„Würden die mir glauben?“
„Stimmt auch wieder.“
„Glauben sie mir denn?“
Schmickler blickte kurz zu Herrn Stellwart. Dann sagte er: „Sie sehen nicht aus wie ein gewöhnlicher Mörder.“
„Was werden sie jetzt tun, wo sie mich gefunden haben?“
Wieder blickten Schmickler und Herr Stellwart einander an.
Nach einer Weile sagte Schmickler: „Kriege sind immer brutal und grausam. Wir haben hier schon so lange keinen Krieg mehr gehabt, dass wir uns das gar nicht mehr vorstellen können. Dennoch mischt sich unsere Regierung in Kriege am anderen Ende der Welt ein, die uns weder betreffen noch etwas angehen. Haupt­mann von Frick war einer von denen, welche die Schmutzarbeit verrichten. Ich persönlich fühle mich nicht berufen mich in dieser Angelegenheit als Richter aufzuspielen.“
Herr Stellwart nickte zustimmend: „Wenn die Polizei ohnehin von einem Reitunfall ausgeht, sollten wir uns nicht einmischen.“
„Und im übrigen hat uns Kommissar Saudow oft genug gesagt, wir sollen uns aus der Polizeiarbeit raus­halten“, fügte Schmickler grinsend hinzu.
„Merkwürdig ist nur, dass in der Presse nichts berichtet wurde“, sagte Herr Stellwart.
„Die Menschen in Europa erfahren kaum etwas darüber, wie der Krieg in Afghanistan wirklich ist, schon gar nicht aus der Presse. Als die Taliban noch regierten, hatten wir wenigstens Ruhe und Sicherheit. Seit dem Ein­marsch der Amerikaner ist das jedoch vorbei“, antwortete der Besucher vom Hindukusch.
Schmickler und Stellwart verabschiedeten sich von dem Mann der sich Ismail nannte und verließen das Haus. Auf dem Weg zum Wagen fragte Herr Stellwart: „Haben wir das Richtige getan?“
Schmickler antwortete nachdenklich: „Es gibt hin und wieder Fälle, da ist meine Sympathie eher auf Seiten der Täter, als bei den Opfern. Das hier ist so ein Fall.“